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Den Stachel noch tiefer ins Fleisch gejagt!

Oder warum das mit Lerntipps und -tricks so eine Sache ist und man sich über ein Einser-Abitur nicht unbedingt immer freuen kann.

Am 14. Mai 2018 stiess ich im online-Portal der Spiegel-Redaktion auf den Artikel So wurde ich vom schlechten Schüler zum Einser-Abiturienten, der in der Rubrik Leben und Lernen/Schule erschien und mit Strategisches Lernen überschrieben ist. (Beitrag in Spiegel-online)

Mit dem Artikel wurden Auszüge eines Interviews veröffentlicht, das die Journalistin Julia Köppe mit betreffendem Einser-Abiturienten, Tobias Brandt, führte, der seine Strategien in Tipps und Tricks für die breite Schülerschaft in seinem Buch Der entspannte Weg zum 1er-Durchschnitt; Wie schule wirklich funktioniert, zur Verfügung stellt. Das Buch ist im 2a Verlag erschienen und zum Preis von 12,80 Euro zu haben.

Wer ist Tobias Brandt?

Tobias Brandt, Jahrgang 1997, besuchte das Marie-Curie-Gymnasium in Dallgow in Brandenburg und machte dort im Jahr 2016 ein Abitur mit einer Durchschnittsnote, die eine Eins vor dem Komma hat – und das, obwohl er erst nach der zehnten Klasse begonnen hat zu kapieren, worum es wirklich geht, und etwas zu ändern. Aber was hat er geändert und wie? Davon berichtet der Autor auf 148 Seiten in seinem Buch.

Als schlechter Schüler hatte Tobias Brandt erkannt, dass er mit den bis anhin erhaltenen Noten wohl kaum zum Abitur zugelassen geschweige denn das Abitur bestehen würde. Also beschloss er nach der zehnten Klasse seine Strategie zu ändern um bessere Noten zu bekommen – was ihm wohl auch gelungen ist. An dieser Stelle sei Tobias Brandt zunächst gratuliert: zu seinem Abitur mit Bestnote und seinem Buch, das aus dem Weg zu diesem Abitur entstanden ist.

Eine denkwürdige Entwicklung

Im Interview von Julia Köppe nach dem Auslöser für seine Strategieveränderung gefragt, berichtet Tobias Brandt davon, dass er sich zielstrebiger verhalten habe, als seine Klasse in Kurse aufgeteilt wurde, die er selber als ‘ziemliche Chaos-Klasse’ bezeichnet. Weil ihn die Oberstufe zunächst mehr gestresst habe als seine Mitschüler, habe er begonnen diese zu beobachten und die Erkenntnis gewonnen, dass er mit nur 20 Prozent seiner für die Schule aufgewendeten Zeit 80 Prozent seines Erfolges habe erzielen können und benennt Beispiele:

Bei den Hausaufgaben unterschied er zwischen wichtigen und unwichtigen Hausaufgaben. Von den wichtigen Hausaufgaben machte er nur die ersten beiden Teilaufgaben und meldete sich gleich zu Beginn der Hausaufgabenbesprechung und gaukelte so vor, die Aufgaben vollständig bearbeitet zu haben. Zudem bearbeitete er ausschliesslich nur jene Aufgaben, bei denen er davon ausging, dass die Lehrpersonen diese auch bewerteten. Vorbereitungsempfehlungen der Lehrpersonen auf ein anstehendes Thema ignorierte er, da zu erwarten war, dass die Lehrperson die Inhalte ohnehin thematisieren würde. Zudem verweigerte er sich solchen Vorbereitungsaufgaben, da sie nicht von der Lehrperson bewertet werden konnten. Seine Verweigerung gegenüber einer differenzierteren Auseinandersetzung mit Schulthemen legitimierte er mit mangelndem Interesse und Quälerei. Und wenn doch, dann verkürzte er intensive Vorbereitungen mit Hilfe von YouTube-Zusammenfassungen um über eine Basis zu verfügen, die er dann auf sehr eigene Art als ‘Krickelkrakel’ visualisierte und gute Noten dafür bekam. Zur Vorbereitung auf Gedichtinterpretationen im Abitur habe er die Vorgehensweise rein schematisch trainiert. In Mathematik und Chemie seien die Grundlagen viel wichtiger. Da habe er parallel zum Unterricht nur die Grundlagen der betreffenden Themen wiederholt. Insgesamt sei es ihm darum gegangen, einen guten Eindruck bei den Lehrpersonen zu machen und dadurch gute Noten bekommen. Für ein Studium prognostiziert Tobias Brandt, dass es reiche eine Klausur zu bestehen. Mehr sei nicht nötig und bringe daher auch nichts. Und das Verhalten sei in der Schule viel wichtiger als im Studium. Schlechtes Verhalten würde im Studium gar nicht ins Gewicht fallen, da die Professoren mit den vielen Studierenden ohnehin überlastet sei.

Im Klappentext zu seinem Erstlingswerk weist Tobias Brandt darauf hin, dass jeder seine Noten zu einem Durchschnitt mit einer Eins vor dem Komma bringen kann, wenn er nur konsequent seine Tipps und Regeln befolgt, die darauf abzielen, den Lehrer in Richtung vorteilhafterer Bewertung zu manipulieren.

Chancen …

Was können wir Pädagogen aus den Äusserungen von Tobias Brandt für uns, den Unterricht und die Schule mitnehmen? Zunächst … Gutes: Wir dürfen, sollen oder sogar müssen dankbar sein für die Hinweise, die uns der junge Autor aus seiner Schulzeit mit auf den Weg gibt.

Die differenzierte Oberstufe ist motivierend

Wir dürfen davon ausgehen, dass die Steigerung seiner Zielstrebigkeit nach der Kursaufteilung damit zu tun hatte, dass eben diese Einteilung keine Reaktion auf das Chaos in der Klasse war, was durch seine Darstellung suggeriert wird, sondern dem etablierten Prozess der differenzierten Oberstufe entspricht, bei dem die Schülerinnen und Schülern ihren Neigungen und Interessen entsprechend ihre Fächer kombinieren können.

Mehr Eigenverantwortung übertragen

Sein Hinweis auf die Hausaufgaben deckt sich mit der aktuellen Diskussion um deren Erteilung und Wirkung auf den Lernerfolg. Wir müssen das Verhalten von Tobias Brandt in Bezug auf die Hausaufgaben zum expliziten Anlass nehmen, das Thema Hausaufgaben in unseren Schulhäusern zu einem pädagogischen Anlass zu machen, wenn wir verhindern wollen, dass wir die Schülerinnen und Schüler vor Betrug und sie als auch uns vor einem Hase-und-Igel-Spiel schützen wollen.

Pädagogische Haltung entwickeln und bewahren

Des Weiteren weist uns Tobias Brandt mit seinen Ausführungen zum ‘Krickelkrakel’ und zur Manipulation der Lehrpersonen auf die Problematik der Notengebung hin. Auch wenn aktuell flächendeckend Noten noch als Referenz für Leistung erteilt werden, müssen Lehrpersonen und ganze Kollegien ein Bewusstsein für die Subjektivität von erteilten Noten entwickeln und nach Möglichkeiten der Objektivierung suchen und diese in der Notengebung verankern, damit das durch den Autor dokumentierte und unglaublich despektierliche Verhalten nicht gefördert wird und echte Wertschätzung in Bezug auf die erbrachten Leistungen entwickelt und gestärkt werden kann. Seine Darlegungen zum Thema Noten sollen uns aber auch wachsam machen dafür, dass wir unsere unterrichtlichen Absichten konsequent reflektieren. Was genau wollen wir erreichen? Welches Verhalten genau wollen wir stärken? Was konkret ist unsere Intention und führt unser Vorgehen in die entsprechende Richtung? Aus den Ausführungen des Autors sollten wir auch hören, dass der Lebens- und Bedeutungsbezug curricularer Inhalte für unsere Schülerinnen und Schüler von eklatanter Wichtigkeit für den Zugang zu einem Thema und das damit verbundene Engagement ist. Das macht die sicherlich schwierige aber absolut notwendige Aufgabe der Lehrpersonen deutliche, Unterrichtssequenzen schülernah, individuell und realitätsbezogen zu planen und aufzubereiten.

Durch die Darlegungen von Tobias Brandt werden wir also mit Themen konfrontiert, die uns nicht neu sind und die schon länger andauernden Diskussionen in den Kollegien massgeblich voranbringen könnten. So weit, so gut!

… und Risiken

Uns sonst? Sonst sind die Aussagen von Tobias Brandt wenig hilfreich, wenn nicht sogar gefährlich. Das liegt zum einen am Thema der Individualität: Er scheint für sich persönlich einen Weg gefunden zu haben, Schule als dem Ort der Qual auf funktionaler Ebene zu begegnen, indem er vortäuscht, betrügt und vordergründig gefällt, um daraus für sich einen Notenvorteil zu schlagen.

Ressourcen werden falsch genutzt

Der Aufruf zu einem Hase-und-Igel-Spiel zwischen Schülern und Lehrpersonen lenkt die Aufmerksamkeit, den Fokus und die Konzentration weg vom Lernen im eigentlichen Sinne hin zu funktionalen Verhaltensstrategien, die mit Lernen in der Bedeutung von Wissensgenerierung nichts zu tun hat.

Notensystem wird geschwächt

Die Vergabe von Noten ist ein heikler, an vielen Stellen auch sehr subjektiver Sachverhalt, den es, wie zuvor erwähnt, dringend zu bearbeiten gilt. Sicherlich wäre es reizvoll und sogar äusserst nützlich, andere Instrumente zu bedienen, mit denen wir Aussagen über das So-Sein von Schülerinnen und Schülern machen können. Aber derzeit verfügen wir über noch kein anderes so akzeptiertes Instrumentarium, weil es nicht aus der Schule alleine heraus entwickelt werden kann. Sich gute Noten durch fragwürdiges Verhalten zu erschleichen stösst dieses Instrument in noch grössere Turbulenzen. Verantwortungsbewusstes Umgehen mit Noten – und zwar auf beiden Seiten – kann dazu beitragen, das derzeitige normierte Aussagesystem so lange stabil zu halten, bis ein anderes entwickelt wurde.

Der Aufruf des Autors, man könne, wenn man nur seinen Tricks und Tipps folge, ebenso in kürzester Zeit den eigenen Notendurchschnitt eklatant anheben, ist also falsch, wenn nicht sogar gesellschaftlich hochgradig gefährlich.

Individualität bleibt unberücksichtigt

Falsch ist der Aufruf deshalb, weil er die Individualität des einzelnen Lerners unbeachtet lässt. Obwohl er der Schule gerade noch vorhält, dass seine Individualität nicht berücksichtigt worden sei, wirft er mit allgemeingültigen Ratschlägen um sich, dass es nur so kracht. An dieser Stelle ist der junge Autor also nicht stringent in seiner Argumentation, was vielleicht ein Zeichen dafür ist, dass er sich zwar funktional aber nicht charakterlich weiterentwickelt hat. Warum sollen die Schüler nur zwei Aufgaben der Hausaufgaben lösen? Warum reicht nicht eine? Oder vielleicht sollten es doch drei Aufgaben sein? Warum kann man nicht hinweisen darauf, dass man als Schüler eigenverantwortlich entscheiden sollte, ob und wie viele der Hausaufgaben bearbeitet werden und den Lehrern nicht vorgaugelt, sondern zeigt, was man kann?

Fronten werden verhärtet

Gesellschaftlich gefährlich sind die Ausführungen von Tobias Brandt, weil er den Keil zwischen Schülern und Eltern einerseits und Schule und Lehrpersonen andererseits noch tiefer einschlägt und damit Vorurteile und Haltungen verstärkt, die uns in unserer gesellschaftlichen Debatte um Schule und Lehrer nicht weiterbringt, sondern die Fronten verhärten lässt.

Dabei können wir uns Fronten in so einem wichtigen Thema wie der Schule gar nicht leisten. Und all jenen, die sich mit all ihrer Kraft für die Entwicklung von Unterricht und Schule einsetzen und sich den umfassenden und mitunter sehr schwierigen Aufgaben widmen, sind die Äusserungen von Tobias Brandt ein vehementer Schlag ins Gesicht.

Lösungsorientierung fehlt

Er hat sicherlich recht, wenn er auf Missstände im Schulsystem hinweist, wenn er den Finger auf Wunden legt, die ihn belastet und demotiviert haben. Da gilt es, diese Defizite anzuschauen und nach Lösungen zu suchen, wie bereits vorgängig in diesem Text geschehen. Das, was Tobias Brandt jedoch als Lernstrategien verkaufen will, ist nicht lösungsorientiert in Bezug auf die individuelle Entwicklung von Schülerinnen und Schülern – weder individuell strategisch noch individuell kognitiv oder individuell persönlich im Sinne einer positiv-wirksamen Entwicklung. Das, was Tobias Brandt so empfiehlt, sind Strategien der Verachtung, Abwertung und Diffamierung.

Es bleibt zu hoffen, dass Tobias Brandt aber eigentlich etwas ganz anderes wollte – nämlich tatsächlich Tipps und Tricks verbreiten, mit denen Lehrer und Schüler individuell besser in ihrem Schulalltag unterwegs sein können, erfolgreicher und befriedigender.

Dialog statt Konfrontation

Um lösungsorientierte und konstruktive Ansätze zu entwickeln und deren Etablierung zu unterstützen hätte es aber eines Positionswechsels bedurft und zwar des Wechsels vom Ankläger zum Entwickler oder Unterstützer. Es wäre immer noch richtig und absolut notwendig gewesen auf die Defizite hinzuweisen. Prozess- und lösungsorientiert wären die Hinweise von Tobias Brandt aber dadurch geworden, dass er Lernchancen aufgezeigt hätte anstatt Vorwürfe zu machen. Prozess- und lösungsorientiert wären seine Hinweise dadurch geworden, dass er seine persönlichen Reaktionen auf die Missstände nicht als allgemein und absolut gültiges Lern-vorgehen deklariert hätte, was, wenn man den Anmerkungen der Spiegel-online-Redaktion folgt, auch nicht gänzlich funktioniert hat, sondern als Ausgangspunkt für eine Diskussion, die danach fragt, ob und wie nicht auch anderes, produktiveres Verhalten hätte generiert werden können – und zwar in ihm und in anderen, individuell. Aus einem solchen Vorgehen kann förderlicher Mehrwert dann entstehen, wenn Raum geschaffen wird für Kooperation in einem Umfeld von gegenseitigem Vertrauen und Wertschätzung. Lügen und Betrügen von Seiten aller Beteiligten erscheint als eine zu zweifelhafte Strategie, um damit eine gesellschaftsprägende Institution wie die Schule weiterzuentwickeln.

Einen solchen Weitblick kann ein frischgebackener Abiturient haben, muss er aber noch nicht. Schade nur, wenn dann ein Verlag bei einem so weitreichenden und wichtigen Thema den konstruktiven Weg ausschlägt und seinen jungen Autor so falsch berät.

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