Differenzierung, Individualisierung und Personalisierung
«Mit Heterogenität musst du heute im Unterricht umgehen können. Das ist alltagsschulische Realität!» Wer kennt sie nicht, solche oder ähnliche klugen Äusserungen, die gerne von denen getätigt werden, die nicht im Unterricht stehen? Dass Homogenität im Unterricht nicht mehr Realität ist und vielleicht nie war, ist schulpolitischen Vorstössen zu verdanken, die an sich nicht falsch sein mögen, in die Pädagoginnen und Pädagogen aber hineingeworfen wurden, wie andere in kaltes Wasser. Die Alternative Schwimmen oder Untergehen ist hier vor dem Hintergrund, dass die Aufgaben, die heute an Schulen geleistet werden müssen, gesellschaftlich von zu grosser Bedeutsamkeit sind, schlichtweg ein Affront und keine zielführende Vorgehensweise.
Vielleicht bringt dieser Blog ein wenig Struktur und Anregung in den Umgang mit Heterogenität im Klassenzimmer.
Menschen sind unterschiedlich und zwar in Bezug auf quasi alles: ihre Genetik, ihre Motivation, ihre Kapazitäten, ihre Interessen, ihre Bedürfnisse, ihre Launen, ihre Möglichkeiten, ihre Tagesform, ihre …
Deshalb ist die Vorstellung von homogenen Klassen in der Schule vielleicht ein frommer Wunsch, aber in der Tat ein nicht existentes Phänomen. Es gibt keine Leistungs- oder Verhaltenshomogenität. Und das ist gut so!
Homogenität ist pure Langeweile
Wenn alle gleich wären und alles immer und überall identisch, wie langweilig bitteschön wäre das denn? Keine Ecken, keine Kanten, keine Brüche, keine Hürden, keine Unterschiede, keine Facetten, keine Herausforderungen, keine Chancen, kein … nichts! Ganz ehrlich: Homogenität ist die höchste Form von Langeweile! Vielleicht macht Homogenität Dinge leichter und einfacher handhabbar. Aber wenn es um Menschen geht, ist nichts einfach und darf nichts einfach sein, weil wir Menschen es verdient haben, dass unsere individuelle Komplexität gewürdigt wird, als Kern des Menschseins. Uniformisierung, Gleichmacherei und Homogenisierung sind entwürdigende Instrumente, die mit individueller Persönlichkeitsentwicklung nichts zu tun haben.
Also verabschieden wir uns von der Vorstellung der Homogenität in unseren Schulklassen, von sortenreinen Schüler- und Schülerinnenansammlungen, und lassen wir uns darauf ein, dass wir alle unterschiedlich sind. Heterogen eben! Und nehmen wir die Heterogenität an als Quelle für unterschiedliche Vorgehensweisen, weil sie eben auch die Quelle unterschiedlichen Soseins ist. Heterogenität in der Schule ist eine Entwicklungschance, vielleicht sogar die einzige.
Heterogenität ist eine Chance – eine arbeitsintensive
Heterogenität macht Arbeit, viel Arbeit sogar. Denn es wäre viel leichter, alle Schülerinnen und Schüler zur gleichen Zeit, in gleicher Weise mit dem gleichen Schulstoff zu konfrontieren und zu erwarten, dass alle Schülerinnen und Schüler die für alle gleich dargebotenen Häppchen auch in gleicher Art aufnehmen und verarbeiten. Aus der Sicht der Lehrpersonen wäre eine solche Vorgehensweise sicherlich viel leichter.
Aber leider wird in einem solchen Unterricht vergessen, dass beim Unterrichten nicht die Lehrperson, sondern die Schülerinnen und Schüler im Mittelpunkt des Interesses steht. Es geht in allererster Linie um das vielfältige Lernen der unterschiedlichen Lernenden. Dieser Heterogenität zu begegnen und zu entsprechen ist die grosse Herausforderung des Lehrerberufs und wahrlich eine Herkulesaufgabe. Dieser Aufgabe kann man sich aber schrittweise nähern. Nirgendwo ist definiert, dass man von Beginn an immer und überall Unterricht erteilen muss, der jeden einzelnen Schüler direkt und unmittelbar erreicht. Unterricht ist keine Einbahnstrasse – die Sache mit dem Nürnberger Trichter funktioniert nicht. Unterricht ist ein kooperativer Prozess, an dem die Lernenden nicht minder beteiligt sind als die Lehrenden. Deshalb haben auch die Lernenden Verantwortung für das Lernen. Die Verantwortung der Lehrpersonen in Bezug auf das Lernen liegt darin, Raum, Zeit und Gelegenheit zum Lernen bereitzustellen und sich dabei möglichst auf die Unterschiedlichkeit der Lernenden einzulassen.
Differenzierung
Den ersten Schritt hierzu bezeichne ich als Differenzierung. Bei differenzierendem Unterricht wird versucht, die heterogene Lerngruppe in Teilgruppen ähnlichen Vermögens zu unterteilen. Kriterien hierfür könnten sein: ähnliche Motivation, ähnliches Leistungsvermögen, ähnliche Konzentrationsspanne, ähnliches Interesse, … Diese «Ähnlichkeiten» werde qualifiziert. Zum Beispiel in stark, mittel und schwach. Auf diese Weise ergeben sich Schülergruppierungen mit ähnlichen Merkmalen, die es der Lehrperson erlauben, auf erste, grobe Unterschiedlichkeiten der Schülerinnen und Schüler einzugehen und zur Optimierung der anstehenden Lehr-Lern-Prozesse zu berücksichtigen. Differenzierung ist also eine erste Unterscheidung auf der Grundlage der Frage: «Welche Kapazitäten kann eine Schülerin oder ein Schüler für das anstehende Thema einsetzen?» und verfolgt das Ziel, die Schülerinnen und Schüler adressatengerecht mit einem Thema oder Lerninhalt zu konfrontieren. Der Schritt der Differenzierung eignet sich besonders für Einstiege in neue Sachverhalte und Lernthemen.
Individualisierung
Mit Individualisierung bezeichne ich einen Planungsschritt der Lehrperson, bei der innerhalb der durch Differenzierung entstandenen Gruppierungen auf die Individualität der Schülerinnen und Schüler eingegangen wird. Der Fokus auf die Individualität erlaubt es der Lehrperson, die individuellen Möglichkeiten der betreffenden Schülerin oder des betreffenden Schülers anzusprechen und zu entfalten. Innerhalb der differenzierten Lernteilgruppen arbeiten die Schülerinnen und Schüler an individuellen Aufgabenstellungen, die ihrem Leistungsniveau entsprechen. Ziel der Individualisierung ist es, dass die Schülerinnen und Schüler den Lernstoff, mit dem sie konfrontiert sind, internalisieren, also verinnerlichen. Dabei achtet die Lehrperson auf die Entwicklung der individuellen Möglichkeiten, indem sie die Schülerinnen und Schüler fördert und fordert. Die Individualisierung eignet sich besonders für die Erarbeitung von Lerninhalten.
Personalisierung
Im Planungsschritt der Personalisierung definiert die Lehrperson, welchen individuellen Lernleistungsschritt die Schülerinnen und Schüler im Thema absolvieren kann und definiert so die mögliche persönliche Entwicklung innerhalb des Themenspektrums. Leitfragen für das Unterrichtshandeln der Lehrperson sind: «Wozu kann die Schülerin / der Schüler das erarbeitete Wissen nutzen?» oder «Zu welchen Neuerungen kann der Schüler / die Schülerin das angeeignete Wissen umformen?» Die Antworten auf diese Fragen weisen einen Produktionscharakter auf und machen deutlich, dass Wissen, das durch Personalisierung generiert wurde, Handlungswissen ist, das die betreffenden Lernenden auf der höchsten Stufe ihrer persönlichen Entwicklung gezielt einsetzen können. Während dieser Entwicklungsphase achten die Lehrpersonen darauf, dass die personalisierte Leistung des Schülers zu einem Beitrag für die Gesamtgruppe wird. Ein solcher gesamtnützlicher Beitrag könnte ein Erklären, Vortragen, unterstützendes Zusammenarbeiten, Visualisieren, Sammeln, … sein. Die Schüler erkennen so, dass ihre persönliche Leistung einen Beitrag für die gesamte Lerngruppe darstellt. Die Schülerinnen und Schüler erfahren Selbstwirksamkeit und Wertschätzung zum Wohle aller.
Durchlässigkeit
Die drei vorgängig skizzierten Planungsschritte erfolgen im Unterricht nicht konsequent sequentiell aufeinander. Sie können in ihrer Umsetzung eher als sich gegenseitig beeinflussende Wirkprozesse verstanden werden, die jedoch zuvor in der Planungsarbeit der Lehrperson sequentiell gedacht und antizipiert werden müssen.
An dieser Stelle sei auch darauf hingewiesen, dass Differenzierung, Individualisierung und Personalisierung keine unveränderbar statischen Zustände, sondern im Verlauf einer Unterrichtseinheit auch durchlässig sein können. Das macht das System sehr komplex und verlangt der Lehrperson einiges an Konzentration, Beobachtungsgabe und Übung sowohl bei der Planung als auch später im Unterricht ab. Aber eben: niemand erwartet, dass eine Lehrperson das Instrumentarium dieses Dreiklangs von Beginn an perfekt bedient und steuert. Viel wichtiger ist, dass sie ihre Aufgabe als Steuerung von Heterogenität versteht und nicht der Versuchung der Gleichmachung erliegt. Der Planungsdreiklang von Differenzierung, Individualisierung und Personalisierung ist hierbei ein Orientierungsraster. Eine beispielhafte Visualisierung des Zusammenhangs dieser drei Schritte sowie ein Planungsraster für differenzierende Sequenzen stehen im Downloadbereich zur Verfügung.